Immer schneller?

„Wer die Augen öffnet und aufmerksam hinschaut, entdeckt die wachsende Zahl der Zeitrebellen, die dem Regime der Beschleunigung widerstehen. Ihnen gehört die Zeit.“ Der letzte Satz im Buch des emeritierten Professors für Gesellschaftsethik, Friedhelm Hengsbach, liest sich fast zu schön, um wahr zu sein. „Die Zeit gehört uns.“ So der Titel einer Publikation, die sich im Kern mit den eigentümlich rasanten Beschleunigungsprozessen befasst, die die alltägliche Lebenspraxis der Menschen bis in die letzten Winkel erfasst hat. Entspannt sitzt er dort auf der Bühne und „erduldet“ milde lächelnd den „Vorwurf“ der moderierenden Michaela Heiser, sein neues Buch sei schwer verdauliche Kost. Zwei Stunden „Zeit“ also, Verständnisprobleme und offene Fragen im Ausgang seiner Thesen zu klären. Und dies in aller Ruhe. Selbst sein klingelndes Smartphone –offenbar ist der Professor kein „digital abgehängter Maschinenstürmer“- kann daran nichts ändern. Gleichwohl ergibt sich daraus eine gewisse Symbolik, die sein Thema begleitet.   Wie kommt es also zu dem zusätzlichen Temposchub, der das 21. Jahrhundert begleitet, der ein willkürliches Regime aufbaut und unsere Zeitautonomie untergräbt?

Wieso koppelt sich die Gesellschaft immer mehr von den inneren Rhythmen der Menschen ab?  Weil das Tempo der Finanzmärkte die Zeit-Rhythmen vorgibt. Seit der Abkopplung der der Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft (Bretton Woods) schaffen automatisierte Handelssysteme auf den Finanzmärkten eine enorme Beschleunigung, die an die Realwirtschaft, die Gesellschaft, die Politik weitergegeben werde. Unternehmensmanager bedienen nur noch die Interessen der Aktionäre. Das wirke indirekt selbst bis in die nicht börsennotierten Unternehmen hinein. Die Unternehmen geben den Druck an die abhängig Beschäftigten weiter. In den privaten Haushalten verwische sich schließlich die Grenze zum Erwerbsleben durch eine Verdichtung der Erwerbsverhältnisse. Ergebnis: Beschleunigung aller Lebensbereiche.  Haben individueller Widerstand und politische Gegenmacht denn nun eine Chance gegen dieses willkürliche, krankmachende Regime? Was schlägt der Professor vor? Zunächst setzt er die große Überschrift: Das Private muss politisch werden. Aus individuellem muss kollektiver Protest werden und über individuelle „Heilmethoden“ wie Zeitmanagement oder Meditation hinausweisen. Politische Bewegungen müssten ihren Gegendruck auf den Finanzkapitalismus entfalten. Auch und gerade die Gewerkschaften stünden in der Pflicht, sich an ihre Forderungen aus dem letzten Jahrhundert zu erinnern: Arbeitszeitverkürzung. Die Finanzmärkte bedürfen der konsequenten Regulierung – und zwar sofort. Insgesamt empfiehlt Hengsbach  eine Entwicklung hin zu einer „Halbtagsgesellschaft“. Und zwar eine, die die Gewinne  zwischen Kapitaleignern und abhängig Beschäftigten fair verteilt. Eine, die das Zeitverhältnis von Erwerbs- und Hausarbeit fair zwischen den Geschlechtern verteilt, mehr Männer in die Beziehungs-, mehr Frauen in die Erwerbsarbeit bringe. Erste Anzeichen einer solchen Entwicklung seien bereits erkennbar, wenn man genau hinschaue: Männer und Frauen, die „nicht mehr mitspielen“. Sie „steigen aus dem Teufelskreis materiellen Wachstums und Ressourcenverbrauchs aus oder werben systemimmanent für einen sozial- und umweltverträglichen Lebensstil.“ Zeitrebellen eben. Ein aufschlussreicher Abend mit vielen offenen Fragen zu einem aufschlussreichen Buch.