Europa wählen

Die Podiumsdiskussion zur Wahl mit
Petra Kammerevert (MEP/SPD), Herbert Reul (MEP/CDU), Christine Linnartz (Bündnis 90/ DIE GRÜNEN), Nick Woischneck (DIE LINKE) und Beret Roots (FDP).  
Es moderierte Stefan Seitz.

Als Gast dabei Yazgülü Zeybek (Bündnis 90/DIE GRÜNEN)
sowie zwei Gebärdendolmetscherinnen für die gehörlose Kandiatin Christine Linnartz.


Hier das Stenogramm der „Ereignisse“:

„Aufwärmthema“: Überbürokratisierung

Christine Linnartz (Bündnis 90/DIE GRÜNEN): Mahnt mehr Unkompliziertheit und Transparenz europäischer Politik an. Stellt eine gewisse „Europamüdigkeit“ fest. „Europa vor Ort gestalten.“

Nick Woischneck (DIE LINKE): Hält eine differenzierte Antwort für nötig. Ein „Draufhauen auf  die Bürokratie“ sei keineswegs richtig. Bürokratie habe auch eine Schutzfunktion. Mehr Regeln als bisher seien für bestimmte Politikfelder sogar  nötig. „Regulierung, da wo sie zwingend ist, z.B. Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik.

Petra Kammerevert (SPD): „Überbordende Bürokratie? – ein zweischneidiges Schwert.“ Die Größenordnung des Apparates  sei wg. der vielfältigen Zuständigkeiten sogar relativ überschaubar. Grundsätzlich müsse aber die Devise lauten: So einfach wie möglich. Allerdings: Gerade die Mittelverwaltung in Förderzusammenhängen verlange geradezu nach Bürokratie. Einfach aber nicht unkontrolliert, so wünscht sie sich die Europaarbeit. Es gelte zu entscheiden,  wo mehr Europa nötig sei (z.B. Daten- und Verbraucherschutz) und wo weniger („Wasser durch Duschköpfe“).

Herbert Reul (CDU): Die Ablehnung von Europa werde an der Überbürokratisierung festgemacht. Die Konzentration auf das, was ein Staat allein nicht leisten könne, sei aber das Entscheidende.  Zuständigkeiten müssten neu geordnet werden. „Der mündige Bürger entscheidet selbst und nicht nach Vorschrift.“ Und Verbote könnten auch kontraproduktiv sein (s. Glühbirnen)

Beret Roots (FDP): Die Bereiche Finanzen und Arbeitsmarkt seien nicht Aufgabe der EU. Vielmehr gelte es die Standards in den Nationalstaaten zu halten.

Sozialstandards / Inklusion / Freihandelsabkommen

Linnartz: Behinderung ist in Europa ein Problem, weil wesentliche Assistenzleistungen verweigert werden. Barrierefreiheit wird nicht tatsächlich eingelöst, z.B. weil die Informationsquellen nicht bereitstehen. (z.B. Gebärdensprache) Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Eine tatsächliche Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien klappt vor allem in Deutschland nicht. Das muss sich ändern.

Kammerevert: Bei den sozialen Sicherungssystemen seien europäische Mindeststandards festzulegen. Der Rest soll nationalstaatlich differenziert bleiben. Europäischer Mindestlohn. Angleichung von Lebensverhältnissen. Freihandelsabkommen: Dies führt mögl. zur Absenkung von Standards in Europa. Sollte eine solche Absenkung deutlich werden, gibt es keine Zustimmung.

Woischneck: Konstatiert ein „Race to the Bottom“ in Sachen Ökonomie (Rennen zu den günstigsten Bedingungen für die Wirtschaft). Z.B. niedrige Löhne wie in Deutschland oder NL. Es dominiere eine „Schlupflöchersuche für niedrigste Standards“. Er fordert einen Wettlaufstopp und ein Mindestlohnmodell für Europa, das sich an 60% des nationalen Durchschnittseinkommens orientiert (in Deutschland somit mindestens 10,-€).

Reul:Nennt zwei wichtige Zieldimensionen: Wohlstandssicherung und Arbeitsplätze. Was kann Europa dazu beitragen? In Sachen Mindeststandards mahnt er  Behutsamkeit wg. der nationalen Unterschiedlichkeiten an.

Freihandel: Hier hat er keine abgeschlossene Meinung. Problematisch sei in seiner Perspektive der  Daten- und Verbraucherschutz. Zunächst habe die Suche nach einem akzeptablen Kompromiss Vorrang. Sieht aber kein Bedrohungspotenzial.

Außenpolitik:Europäische Position in der Ukraine-Krise

Zeybek: Gezielte Sanktionspolitik gegen persönlich Verantwortliche; das Krim-Referendum sei aus EU-Sicht völkerrechtswidrig: keine internationalen Beobachter waren zugelassen; Bevölkerung nicht in die Verhandlungen einbezogen. Die EU sollte die Basisentscheidungen künftig stützen. Für die Präsidentschaftswahlen sei Wahlbeobachtung zwingend. Entwaffnung der Rebellen; Druck auf Russland; Stärkung der demokratischen Kräfte und der EU-Beitrittsperspektive hätten aus Sicht der GRÜNEN Priorität.

Roots: Priorität habe zwingend die Deeskalation und zwar dadurch, dass man die Beitrittsperspektive aktuell nicht stützt und eine gemeinsame außenpolitische Linie entwickelt. Das Problem sei aber, dass nationale Interessen in Brüssel offen und nicht im Hinterzimmer vertreten werden müssten.  

Ist Europa durch die Krise der Ukraine überrascht/überfordert?

Reul:„Putins Konsequenz/Brutalität im Vorgehen war so nicht vorhersehbar.“ Das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer sei selbstverständlich. Die Abhängigkeit von Russland sei aber gesamteuropäisch verbreitet, Einigkeit deshalb schwierig. Wirtschaftshilfen an Ukraine stünden jetzt auf der Tagesordnung, aber auch ein konsequentes Ernstnehmen von Russland. Schärfere Sanktionen gingen auch an die Substanz der deutschen Bevölkerung. „Nüchtern, aber konsequent rangehen.“ „Insgesamt ein gefährliches Thema.“

Woischneck: Sieht keine Fortschritte in der europäischen Krisenpolitik (s. hohe Jugendarbeitslosigkeit vor allem in Spanien und Griechenland). Deshalb sei die EU  als Wohlstandsmodell kaum darstellbar. In Sachen Ukraine sei grundsätzlich zu fragen, woher diese Krise eigentlich kommt? Putin ist für ihn ein „konservativer Nationalist“. Aber: Die NATO  schuf gefährliche Präzedenzfälle mit ihrer „konfrontativen Ausrichtung“. Es gäbe aber nur eine europäische Sicherheitsarchitektur mit Russland gemeinsam.

Kammerevert:„Das Ukraine-Thema macht Angst.“ Ein Gut/Böse-Schema tauge hier aber nicht, weil die Konfliktlage insgesamt komplex und schwer beurteilbar sei. Insgesamt aber gehe es vor allem um eine freie Entscheidung der Ukrainer selbst. Präsidentschaftswahlen seien in ihrem demokratischen Potenzial schwer einschätzbar. Sie setzt auf die Kraft der europäischen Diplomatie: Deeskalation, Auswege anbieten. Ein verbales Aufrüsten vom Westen her verbiete sich deshalb grundsätzlich. Die russische Ökonomie liege am Boden, so dass sie vitale Eigeninteressen an der Aufrechterhaltung der Beziehungen unterstellt. Vorrang der Diplomatie.

Publikumsrunde

„Schwäche“ der EU:

Wie schafft man mehr Bürgernähe? Gute Projekte werden nicht zugänglich gemacht. Teilhabe an der EU für alle Menschen ermöglichen. Barrieren abbauen. Transparenz herstellen. Bürger ins Blickfeld rücken. (Linnartz)

Europa-Werbung verstärken, damit die Leute merken, welche positiven effekte die EU-Politik habe (Stichwort „Banken-Regulierung: viel sei hier umgesetzt worden.)  Selbst ewas tun. In Schulen gehen. Viele kleine praktische Vorteile in E. einfach an die Leute bringen. (Reul)

„Die 99 deutschen Abgeordneten  in Brüssel sind allesamt überzeugte Europäer, allerdings mit begrenzten Möglichkeiten. Die Medien etwa sollten Europäische Politik als Selbstverständlichkeit in den Nachrichten bringen, um die Alltagsarbeit abzubilden.“ Europäische Demokratie sei keine Selbstverständlichkeit. Daran müsse stets erinnert werden. (Kammerevert)Zeigen, wieviel Chancen ein barrierefreies Europa behinderten Menschen/Minderheiten bieten kann. (Linnartz)

Demokratie & Menschenrechte als zentrale Werte in Europa herausstellen und sichern. Eine Europäische Flüchtlingspolitik entwickeln. (Roots)

Warum strömen Bürger nicht zu den Wahlen? Es liegt nicht an der Öffentlichkeits-Arbeit. Zentral ist die Frage: Was nehmen die Leute wahr? Ein Bürokratisches Monstrum, Kürzungspolitik, sozialen Kahlschlag? Auf dieser Wahrnehmung fußt der Rechtspopulismus und macht den europäischen Gedanken kaputt. Das strukturelle Demokratiedefizit: Es fehlt an realen Mitbestimmungsmöglichkeiten. Hat meine Stimme wirklich Einfluss? Das Europäische Parlaments bedarf einer Stärkung: Initiativrecht, Haushaltsrecht, dazu Volksentscheide auf europäischer Ebene. Insgesamt wird die EU als Projekt der Eliten wahrgenommen. Eine echte Demokratisierung sei nötig. (Woischneck)

Warum am 25. wählen gehen? Nur durch Wählen wird Mitgestalten möglich. Das Freihandelsabkommen schafft Standards ab. Das gilt es zu verhindern. (Linnartz)

Die Wahlbeteiligung an EU-Wahlen  ist nicht schlechter als bei anderen. Nichtwahl kann auch Ausdruck von Zufriedenheit sein. Das unterstellte Demokratiedefizit stimmt so nicht. Parlament wird natürlich gefragt und entscheidet mit. Das teilt sich nur nicht ausreichend mit. (Reul)

Das Parlament wurde durch den Lissabon-Vertrag erheblich aufgewertet. Zuletzt hat es das u.a. nachgewiesen etwa durch die Aussetzung des SWIFT-Abkommens mit den USA. EP hat vieles erreicht. Es bedarf aber der Legitimitätsausstattung durch die Bürger/innen. Die Hauptaufgaben für die Zukunft wären, die Kluft zwischen Arm & Reich kleiner zu machen, Demokratie und Sicherheit in Europa zu garantieren. Nicht zuletzt deshalb gilt es, zur Wahl gehen; denn mehr als „65 Jahre Frieden in Europa sind keine Selbstverständlichkeit“. (Kammerevert)