„Flucht“ – das Megathema der letzten Monate – und zwar weltweit. Das Thema beherrscht die Politik, es beherrscht die Medien, es füttert die Stammtische. Und es polarisiert. Es durchdringt den Alltag „besorgter“ Bürger/innen im Land, von denen paradoxerweise vermutlich nur eine Minderheit bis heute überhaupt je einen Flüchtenden persönlich kennengelernt hat. Die allgemeine Erregungsbereitschaft ist groß. Man kennt solche Zeiten aus der Geschichte. Sie sind durchaus gefährlich; denn die Neigung zu einfachen, auch inhumanen Konzepten und Antworten auf komplexe Fragen ist groß. Wenn man aber nicht bloß an den Symptomen herumpfuschen will, muss man zunächst grundlegende Fragen stellen & beantworten. Zum Beispiel die nach den Ursachen von Flucht. Das ist für uns im reichen Teil der Welt nicht unbedingt angenehm. Das machen selbst die Dichter & Denker, die intellektuellen und funktionalen Eliten im Land nur höchst selten.
Vielleicht führt einWeg zum grundsätzlichen Nachdenken ja über die Flüchtenden selbst. Was wissen wir über deren Realität? Wer sie sind? Woher sie kommen? Was sie an treibt? Wie eine Flucht verläuft?Miriam Faßbender hat sich solche Fragen schon lange vor dem großen Medienhype gestellt. Sie wollte nicht weniger als „der Migration Gesichter geben.“ Und weil sie Filmemacherin, Regisseurin ist, hat sie das mit ihren Werkzeugen auch getan. Sie hat mit der Kamera in der Hand Flüchtende aus Zentralafrika auf ihrem langen und gefährlichen Weg quer durch die Wüste an die militärisch gesicherten Grenzen von Europa begleitet, einen abendfüllenden Film („Fremd“) gedreht und auf die Leinwand gebracht. Dazu ein Buch geschrieben („2850 km. Mohamed, Jerry und ich. Tagebuch einer Flucht.“ Westend Verlag)
Kaum zu glauben, dass die zierliche junge Frau vor knapp zehn Jahren ein Dokumentarfilmprojekt realisierte, das in Sachen Thematik, Struktur und –ja- Gefahr und Risiko seinesgleichen sucht. Der Film „Fremd“ zeigt Menschen, die sich in Subsahara-Staaten auf einen ebenso beschwerlichen wie langen und gefährlichen, manchmal aussichtslosen Weg machen, um nach Europa zu kommen: Mohamed kommt aus Mali, besser gesagt aus dem bitterarmen Nordosten des Landes. Jerry kommt aus Kamerun. Beide sind auf dem Weg durch die algerische Wüste, durch Marokko in die spanische Exklave Melilla, ins „gelobte“ Europa. Miriam begleitet sie zusammen mit ihrem „Tonmann“, der aber gleich zu Beginn erkrankt. Ab da ist sie allein. „Gefährlich?“ „Ich denke, es war schon gut, dass ich nicht hellblond bin. Und rückblickend war es vielleicht sogar nützlich, als Frau allein unterwegs zu sein.“ Dass eine große Portion Mut und vielleicht eine „gesunde Restnaivität“ dazu nötig ist, darüber spricht sie nicht. Dafür umso mehr über ihre Protagonisten, Mohamed und Jerry. Und über das geschundene und ausgebeutete Mali, Platz 176 auf dem Wohlstandsindex der UN und damit der zehntletzte Platz. Reich an Rohstoffen (Gold, Phosphat, Uran) und doch bitter arm. Zuletzt durch den „Krieg gegen den Terror“ nach 2012 zusätzlich erschüttert und destabilisiert. Hat die französische Intervention tatsächlich nur die Dschihadisten im Norden und nicht die Uran-Vorkommen in der Nähe von Gao im Blick. Irgendwie will man das einem Land, das wie kein zweites auf Kernenergie setzt, nicht abnehmen. Den Menschen kann das einerlei sein. Die Armut und Perspektivlosigkeit vertreibt sie zu tausenden. Mohamed will unbedingt zum Wohle seiner Familie nach Europa. Geld verdienen, Erfahrungen machen und – wieder zurückkehren. Migration auf Zeit.
Der Weg nach Norden ist gefährlich und quälend lang. Miriam berichtet von Flüchtenden auf den Routen, die Monate, manchmal jahrelang unterwegs waren: immer wieder in einer Warteschleife gefangen, von einem Provisorium zum nächsten. Abwarten. Weiterziehen. Versuchen, Geld zu verdienen. Niemals ist die „Reise“ von Beginn an durchfinanziert. Überall lauern Gefahren: Banditen, Geschäftemacher, Polizei, Zöllner, Militär. Die Behörden machen auch Miriam zu schaffen. Ihre Aktivitäten sind nicht unbedingt willkommen. Warum machen sich die Menschen auf den Weg? „Die Fluchtursachen sind komplex“. Das postkoloniale Erbe, die politische Destabilisierung, Korruption. Armut und Arbeitslosigkeit. Die Abhängigkeit von globalen Konzernen und deren Steuerflucht, unfaire Handelsbedingungen, „Landgrabbing“. Und nicht zuletzt die Umweltzerstörung: Klimawandel, Temperaturanstieg – Dürren, Wasserknappheit, desolate Ernten, Hunger. Die Liste ist ebenso lang wie bestens bekannt.
Miriam Faßbender beschreibt im Gespräch die „Flucht als Prozess“ (mit festen Strukturen). Eine wichtige Rolle spielt dabei immer wieder der Faktor „Zeit“: Improvisationen, Umwege, vorübergehende Sesshaftigkeit, Weiterreise. Die Orte unterwegs: Es gibt Zwischenstationen und „Ruhezonen“. (Foyers / „Tranquillos“) Wie muss man sich das Leben im Foyer (einer Flüchtlingsherberge) vorstellen? Miriam hat selbst dort eine Weile gelebt, beschreibt den Alltag, die Rituale, die Hierarchien…) Erfolgreiche Flucht braucht Hilfsstrukturen – Migrationsnetzwerke: Wie sehen die aus? Wie funktionieren sie? Das Fluchthilfe-Personal: der „Chairman“ (=Eigentümer eines Foyers, der mit seiner Einrichtung mehr Geld verdient als es in Europa möglich wäre.) Der Foyerchef, die Schlepper, die sogenannte Automafia für den Wüstentransfer – sie alle wirken zusammen („Connexion“). Flucht / Migration erscheint hier als ein hoch „komplexes System“.
Was ist aus Mohamed und Jerry schließlich geworden? Mohamed ist vor Melilla gescheitert, wurde abgeschoben und ist nach Mali zurückgekehrt. Jerry hat es „in ein französischsprachiges Land“ geschafft, wo er jetzt arbeits- und perspektivlos als „sans papier“ (Illegaler) fest sitzt. Die Geschichte im Film hat kein Happy End. Realität für auch für –zig andere, die aufgegriffen, abgeschoben, gequält und gefoltert werden. Und sich nicht selten erneut auf den Weg nach Europa machen. Kein Zweifel: Miriam Faßbenders Film und ihr Buch zeigen auch die grausame Seite der Flüchtlingspolitik. Wenn man das Buch liest, dann ist man zugleich beschämt darüber, wie sich der reiche Westen abschottet und welchen Mut und Bereitschaft die Flüchtenden aufbringen, ihrem Schicksal der Armut zu entgehen. „Nichts und niemand wird uns stoppen können, solange sich unsere Perspektiven unten nicht ändern.“ Ein geradezu programmatischer Satz, der ausdrückt, dass sich das Problem weder mit Stacheldraht noch mit Schießbefehl an den Grenzen lösen lässt. Fazit: Migration ist individuell und kollektiv nichts anderes als der selbstbewusste Ausbruch aus den Zwängen eines geopolitisch verursachten, existenziellen Notstands. Niemand flieht aus freien Stücken.