„Erschütterung von Weltbildern durch Irritationen des Großhirns“

Politische Runde mit Norman Ohler über „Drogen im Dritten Reich“

Geschah der Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus  -Völkermord, Vernichtungskrieg- auf der Grundlage von massenhaftem Drogenkonsum? Muss das „Gesamtbild des NS“ deshalb korrigiert werden? Verändert dieses Buch das Bild, wie es der bekannte, inzwischen verstorbene Historiker Hans Mommsen formulierte? Ist die Geschichte der Drogen eine Teilgeschichte des Nationalsozialismus, der nur so richtig verstanden und erklärt werden kann? Oder handelt es sich beim „Totalen Rausch“ um einen weiteren, eher spekulativen Beitrag zur Psychopathografie Adolf Hitlers, des „Patienten A.“, wie er von seinem Leibarzt Dr. Theodor Morell genannt wurde? Was ist dran an den Thesen vom „zu gedröhnten Diktator“ und den Pervitin getriebenen Landsern und Generälen, die den sogenannten „Blitzkrieg“ anfangs so „erfolgreich“ geführt hätten? Norman Ohler hat die Hamburger Journalistenschule besucht, arbeitete u.a. für Stern, Spiegel und GEO. Er war Stadtschreiber in Ramallah, Palästina, danach Stadtschreiber von Jerusalem. Man kennt ihn  als Roman-Autor („Die Quotenmaschine“, „Mitte“, „Stadt des Goldes“ = Eine Metropolen-Trilogie.) Und ggf. als Co-Autor von Wim Wenders  beim Drehbuch des Spielfilms „Palermo Shooting“. Er hat mit dem Schauspieler Dennis Hopper (Co-Autor) zusammen gearbeitet. Der ist ja u.a. durch den Film „Easy Rider“ einem Massenpublikum der 70er Jahre bekannt geworden. („Don’t bogard your Joint, my friend“). Vielleicht  ein Wegweiser zu den „Nazis on dope“?

Warum schreibt einer, der auf fiktionale Texte spezialisiert ist, ein sogenanntes „Sachbuch“, das irgendwo zwischen Wissenschaft und Erzählung changiert? – Ein Freund habe ihn auf das Thema „Nazi und Drogen“ gebracht. Die Quellenfunde in den Archiven hätten ihm schon bald gezeigt: Dieser „Stoff“ lässt sich fiktional nicht einfangen. Also, die Fakten selbst sprechen lassen, ein Sachbuch eben.
„Der totale Rausch“ wurde bisher in 14 Ländern publiziert & übersetzt. Der Bochumer Historiker Hans Mommsen hat sich im Nachwort ganz überschwänglich zu der Arbeit geäußert und unter anderem gemeint, dieses Buch würde das Gesamtbild ändern, das wir bislang vom Nationalsozialismus hatten. Ian Kershaw (u.a. Hitler-Experte) sagt ähnliches. Aber es gibt auch reichlich Kritik bis hin zum Totalverriss. Immerhin also ein Buch, das Reaktionen hervorruft.
Mögliche Erklärungsansätze für den Erfolg: Die unkonventionelle Perspektive, die „steilen Thesen“ und der „Erzählstil“. Die Sprache ist häufig bildhaft, szenisch, bisweilen keck oder sarkastisch. Die Sprachpalette  also breit und für historiografische Publikationen eher ungewöhnlich. Das Vorwort heißt zum Beispiel „Packungsbeilage“.  Es gelingt stellenweise Außergewöhnliches, z.B. die sprachliche Synthese bei der Darstellung von realer Kampfhandlung im „Blitzkrieg“ gegen Frankreich und der Drogenwirkung auf die Soldaten beim Angriff auf Sedan, 1940. Ohler schafft es, halluzinogene Zustände der Truppe in Worte zu übertragen, wechselt zwischen solch intensiven sprachlichen Anwendungen zur eher nüchternen Berichterstattung und wieder zurück. Gelegentlich wird es sarkastisch wie am Ende im „Führerbunker“ zwischen Hitlers Trauung und Suizid: „Nach der gespenstischen Hochzeitszeremonie gab es Spaghetti mit Tomatensoße an der Seite, Blausäure als Nachtisch und Kopfschuss mit einer 6,35 mm-Walther.“  Was ist eigentlich die übergeordnete These dieses Buches, für das Ohler in den Bundesarchiven Koblenz und Freiburg sowie in den National Archives in den Staaten recherchierte? Vielleicht dies: Drogen wurden im Dritten Reich als künstliches Mobilisierungspotenzial genutzt, um nachlassende Motivation auszugleichen und die Eliten handlungsfähig zu halten. Ohler verfolgt die eher ungewöhnliche Perspektive von der Gleichschaltung zur Selbstausschaltung des Nationalsozialismus. „Sieg High“: Der Blitzkrieg, die Wehrmacht und die Drogen Ohlers These: Generäle & Landser unter Pervin machen den Blitzkrieg überhaupt erst möglich und so überraschend „erfolgreich“, irritieren damit Hitler, der einen militärisch kaum nachvollziehbaren Halte-Befehl (Dünkirchen) gibt. Militärische Überlegenheit also durch Drogen?

35 Mio Einheiten Pervitin, im Blitzkrieg vergeben an die Wehrmacht: Kann man dietatsächliche Anwendung der Droge in der Wehrmacht, in der Fläche zweifelsfrei nachweisen? Kann man nicht, aber „Indizien“ sprechen für die massenhafte Anwendung. Nur so konnten die Panzerführer und Motorradstaffeln Tag und Nacht, ohne Schlaf, tagelang durch die Ardennen stürmen, bis sie schließlich vor Paris standen. Die Easy Rider des Faschismus on dope. „Pervitin hielt gesichert vom Schlafen ab, schlauer machte es nicht. Ideal für Soldaten.“ Pervitin, das auch in der Zivilbevölkerung massenhaft konsumierte „Weckamin“, die „Volksdroge“, machte es möglich. Sie schaltete Hemmungen aus, wodurch das Kämpfen leichter fiel. Sagt Ohler.
War der einflussreiche Otto Ranke (Prof. für Wehrphysiologie der Militärärztlichen Akademie) -was man bisher so noch nicht wusste- als ein selbst abhängiger Pervitin-Dealer der Promotor von Drogen in der Wehrmacht? Ohler vertritt diese These. Allerdings: Der bekannte Medizin-Historiker Winfried Süß hält Pervitin-Einsatz beim Militär für eine alte Kamelle, längst erforscht, aber keinesfalls kriegsentscheidend.
Welche Rolle spielte Pervitin in der Zivilbevölkerung? „Das sozialharmonistische, auf Gemeinschaft gegründete Weltbild der Nazis erwies sich in der Realität einer auf Konkurrenz basierenden modernen Leistungsgesellschaft schlicht als Trugbild.“  Der Ausweg für viele: Doping durch Pervitin. Oder „NS in Pillenform“
Das „Filet-Stück“ von Norman Ohlers Buch aber ist die besondere Beziehung von Hitler („Parient A.“) zu seinem Leibarzt Dr. Theo Morell. Warum ist die Person von Theodor Morell historiografisch bisher eher eine Randfigur? Weil er in der öffentlichen Wahrnehmung, auch zu NS-Zeiten als eher negativ besetzte Figur galt. Unter den Ärztekollegen ein umstrittener Modearzt der Berliner Promiszene, unappetitlich ungepflegt. Ein „Quacksalber“ und Opportunist, dem Hitler aber vollständig vertraute, und der den „Patienten A.“ auf Droge setzte. Morell sei vermutlich der Mensch, mit dem Hitler seit 1941 die meiste Zeit verbracht hätte. Das Bild und die Selbststilisierung von Hitler zum Abstinenzler und Vegetarier, wird von Ohler konsequent dekonstruiert: Er zeigt, dass „Patient A.“ ein „Polytoxikomane“, ein Junkie war, in dessen Adern Extrakte aus Tierkadavern schwammen, die Morell in der Ukraine aufkaufte und deren Hormone er zu zweifelhaften Cocktails verarbeiten ließ, die er „dem Führer“ regelmäßig injizierte und ab 1941 regelmäßig mit Eukodal, einer Heroin-Abart, zu dröhnte. Hitler wird zum „Junkie“ mit diversen Krankheitssymptomen, u.a. Schüttellähmungen. Sucht als Erklärung für Irrationalität? Ohler erzählt die Geschichte der Selbstauflösung des Systems von Innen ab Sommer 1941 am Beispiel der „Drogenkarriere“ des „Patienten A.“ Er beschreibt den vollständigen Realitätsverlust Hitlers in der Dunkelheit des Bunkers in der Wolfsschanze.
Allerdings: Der Historiker Henrik Eberle und der emeritierte Berliner Charité-Mediziner Hans-Joachim Neumann stellten 2009 in ihrem Buch „War Hitler krank?“ fest, dass er 82 verschiedene Präparate eingenommen haben soll, bis zu acht verschiedene Arzneimittel täglich. Ziel ihrer historischen Forschung mit modernen medizinischen Analysen verbunden: Beweisbares von Legenden trennen. Das Ergebnis: Hitler kämpfte zwar tatsächlich mit vielen Leiden, hatte arteriosklerotisch bedingten Parkinson und pumpte sich mit Medikamentencocktails voll. Aber: „Hitler war nicht drogenabhängig“. Ohler erklärt dazu, die beiden hätten die Aufzeichnungen von Theo Morell und dessen Krankenakten nicht exakt genug gelesen. Für die konstatierte Sucht nach Eukodal ab 1943 gibt es Indizien, aber keine letzten Beweise.
Das Ende Hitlers als Wrack: Ein körperlich verfallener Junkie auf kaltem Entzug. Sabbernd, entscheidungsunfähig, erbärmlich. Das alles ist alles hinlänglich bekannt. Ohler erklärt diese desolate Endphase  durch Drogenabhängigkeit und Übermedikalisierung. Liefert er damit nicht –völlig wider Willen- den Geschichtsrevisionisten & Holocaustleugnern „Munition“, um die Schuldfrage neu zu stellen? Also, ein ungewolltes Dilemma? Entsteht so ein „neuer Hitler-Mythos“ durch personalistische Geschichtsschreibung? Oder ein Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit dem NS als komplexes Problem? „Voll schuldfähig,“ sagt Ohler. Es zählt sicher zu den Vorzügen Buches, das es sich dem NS in „unkonventioneller Perspektive“ widmet und auf diese Weise auch Forschungslücken schließt: Zum Beispiel die bislang reichlich unterschätzte Bedeutung des Drogenkonsums der funktionalen Eliten, des Militärs und der gesamten Gesellschaft. Völlig klar, dass es  kontrovers diskutiert wird und gerade deshalb zu weiterer Forschung ermuntert. «Die Drogen verstärkten, was ohnehin angelegt war.» So Norman Ohler. Also totale Herrschaft, Rassenwahn, Antisemitismus, Völkermord, Vernichtungskrieg des Nationalsozialismus. „Der totale Rausch“ wird dann zum wichtigen, differenzierenden Beitrag für die Erklärung des komplexen NS-Systems, wenn er denn in einen diskursiven Kontext mit aktuellen historischen Forschungsständen und Fragestellungen eingebettet wird. Das müsste nämlich noch erledigt werden. Ansonsten eine detaillierte Darstellung, die das gängige NS-Bild um einen wichtigen Aspekt ergänzt: Die Fähigkeit nämlich, Skrupellosigkeit mit Modernität zu verbinden, wenn es darum ging, auch letzte Ressourcen zu mobilisieren. Und grundsätzlich gilt, was Norman Ohler einem Teil der Kritik entgegen hält: Die ideologischen Wahnwelten des Nationalsozialismus waren nicht Resultat von Drogen sondern bereits vorher festgelegt.
 „Wo Ideologie nicht reichte, wurde pharmakologisch nachgeholfen.“ Norman Ohler: Der Totale Rausch. Drogen im Dritten Reich. Köln 2015 (= Kiepenheuer & Witsch), 19,99€