Philosophie gegen „geistige Obdachlosigkeit“

Jürgen Wiebicke, der Radiophilosoph von WDR5, wirkt auf beruhigende Weise irritierend. Bei seinem Gastauftritt in der Politischen Runde spricht sehr entspannt und unaufgeregt über „die wichtigsten Dinge des Lebens“ „Dürfen wir so bleiben, wie wir sind?“ Das ist der Titel seines neuen Buches, dessen Einband eine Bilderfolge der Menschwerdung, vom Affen bis zum (…)“Brainman“ schmückt. „Wollen Sie „Brainman“ werden, fragt Wiebicke ins Publikum. Will es natürlich nicht. Irgendwie wollen alle –Tegtmeier hätte es so formuliert- „Mensch bleiben“ (dürfen).  Und irgendwie vereint „uns“ eine intuitive Abneigung gegen diesen „Brainman“, dieses sich unablässig selbst optimierende Wesen. Wie können „wir“ uns dazu stellen, dass das Bild vom Menschen offenbar gerade dramatisch verändert wird? „Wir sind dabei, uns selber als eine Art von Software zu betrachten, die man ständig verbessern muss.“ So Wiebicke, der die einzige interaktive Philosophie-Sendung im deutschen Radio moderiert. Wenn Fortschritt als ein zwangsläufiger Prozess funktioniert, der sich nicht aufhalten lässt, dann wäre das zugleich das Ende der Politik. „Kluges Philosophieren ist die Grundlage von Politik.“ Drohende Szenarien aber gibt es zuhauf. Etwa Ray Kurzweils Vision, dass etwa im Jahr 2045 Mensch und Computer verschmelzen würden. Der Mann ist immerhin technischer Direktor bei google!

Jürgen Wiebicke postuliert dagegen einen Prozess des Mündigwerdens durch Philosophie, indem die scheinbar schlichte Frage gestellt wird, was gutes Leben eigentlich ausmache (Aristoteles). Philosophie helfe dabei, ethische Entscheidungen zu treffen. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Einen kurzen Ausflug ins zahlreiche Publikum erlaubt sich der „Radiophilosoph“ auch, in dem er  am konstruierten Lebensretterbeispiel von „Fatmann“ die Anwesenden vor eine ethische Entscheidungsfrage stellt und dabei -nebenbei- den Unterschied von Kantianismus und Utilitarismus erklärt. („Eine Volkshochschule in Texas hätte „Fatman“ ohne mit der Wimper zu zucken „geopfert“, um die anderen 5 Leben zu retten. Amerikaner denken utilitaristisch.“)

Wiebickes Gespräch mit Moderator Stefan Seitz kreist immer wieder um die Definition von „Fortschritt“ in Forschung, Medizin, Technik. Jedes ethische Geschäft (z.b. die Frage der Sterbehilfe) müsse darauf hin hinterfragt werden, ob es tatsächlich eine „Verbesserung“ ist.  Erst der ethische Konsens präge die Politik. Die Philosophie helfe lediglich dabei, die notwendigen Fragen zu stellen. „Dürfen wir so bleiben, wie wir sind?“ Eine Frage, die in Zeiten der Orientierungslosigkeit hohe Aufmerksamkeit gewinnt.  In einer Welt, in der ausgeprägtes Konkurrenzdenken zum Optimierungswahn führt, dem sich das Individuum durch Verinnerlichung fraglos selbst unterwirft, müsse daran erinnert werden, dass das Konzept einer „negativen Freiheit“ künftig nicht mehr ausreiche und dringend ergänzt werden müsse um die Rückbesinnung auf eine grundlegende Gemeinwohlorientierung (der Mensch als soziales Wesen). „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wenn diese Erklärung es schon schwer hat der Realität standzuhalten, so gerät sie jetzt bereits als Grundsatz in Gefahr. Was könnte helfen? Mehr Philosophie wagen?